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Titel
Der Deutsche Kanal. Eine Mythologie der alten Bundesrepublik


Autor(en)
Uekötter, Frank
Erschienen
Stuttgart 2020: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
330 S.
Preis
€ 29,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Timo Luks, Historisches Institut, Justus-Liebig-Universität Gießen

Einige Eingeweihte denken bei Kanälen vermutlich sofort an Schleusen, Hebewerke, Frachtraten und Verkehrsentwicklungspläne. Andere dürften im Einklang mit dem populären Bildprogramm des Anthropozäns die Wunden vor Augen haben, die der Mensch der Erdoberfläche im Verlauf der Geschichte zugefügt hat. Wie auch immer die Assoziationen sein mögen: Was Leserinnen und Leser von Frank Uekötters „Der Deutsche Kanal“ in die Hand bekommen, ist eine Fallstudie zu ausgewählten Problemen der Verwaltungsgeschichte der Bundesrepublik – ein Schnappschuss der politischen Kultur und der Institutionen der 1950er- bis 1970er-Jahre. Konkret geht es um den 115 Kilometer langen, 1976 eingeweihten Elbe-Seitenkanal, der die Elbe mit dem Mittellandkanal verbindet. Die „Umstände seiner Geburt“, so heißt es programmatisch, „machten ihn zu einem Mikrokosmos seiner Gesellschaft. Wie in einem Brennglas vereinen sich im Elbe-Seitenkanal Schlüsselthemen der bundesdeutschen Geschichte: gesichtslose Verwaltungen und mächtige Konzerne, Staatswirtschaft und politische Planung, Wachstumsdenken und Strippenzieher, föderale Ränkespiele und ein politisches System, in dem dann, wenn etwas schiefging, plötzlich niemand mehr verantwortlich war. Zugleich ging es bei dem Kanal, der entlang der innerdeutschen Grenze erbaut wurde, auch um die bundesdeutsche Ostpolitik, die Zonenrandförderung und die Pläne für den Verteidigungsfall. Der Elbe-Seitenkanal war deshalb mehr als eine der 64 Binnenwasserstraßen des Bundes. Er war ein Spiegel für das, was die Bundesrepublik ausmachte.“ (S. 7f.) Andererseits war er, „global gesehen, in bester Gesellschaft“ (S. 22), auch wenn das im Verlauf der Studie nicht weiter ausgeführt wird.1

Uekötter erzählt die Geschichte eines Kanals, der nicht gebaut wurde, „weil es gute Gründe für das Projekt gegeben hätte, sondern lediglich deshalb, weil es nach jahrelangem Taktieren niemanden mehr gab, der den Bau hätte verhindern können“ (S. 10). Es geht um die Analyse eines „System[s] der organisierten Verantwortungslosigkeit“, das die politische Kultur und das institutionelle Gefüge der Bundesrepublik über Jahrzehnte geprägt habe. Uekötters Studie entfaltet ihr „Lehrstück über Politik und Verwaltung im Nachkriegsdeutschland“ (S. 11) in zehn Kapiteln, ergänzt um zwei Essays, von denen der eine eher unspektakulär die Zusammenhänge von Skandalen und politischer Verantwortung diskutiert, während der andere nach „Sinn und Nutzen der Zeitgeschichte im 21. Jahrhundert“ fragt. Letzteres ist eine bewusst gesetzte Provokation und in der Stoßrichtung etwas ärgerlich. Ich werde darauf zurückkommen.

Am Anfang steht die Verwunderung des Historikers darüber, dass bestimmte Fragen, die sich angesichts eines solchen Bauprojekts im Rückblick unmittelbar aufdrängen, zeitgenössisch überhaupt nicht gestellt wurden: Fragen nach den grundlegenden Problemen der (Infrastruktur-)Planung, des Föderalismus, der Staatswirtschaft, des öffentlichen Diensts, von Koalitionsverhandlungen und Koalitionsverträgen, des Wachstums, der Wirtschaftsförderung usw. „Auffallend oft“, so Uekötter, „wurde die Genese des Elbe-Seitenkanals von Zusammenhängen geprägt, die offenkundig eine Geschichte hatten, aber von den Zeitgenossen nicht als historisch kontingent erkannt wurden“ (S. 22). Das ist die Perspektive von Roland Barthes' „Mythen des Alltags“, auf die Uekötter sich explizit bezieht. Die am Beispiel eines Kanalbaus erprobte kleine Mythologie der Bundesrepublik zielt entsprechend auf eine Art Inventarisierung vermeintlicher Selbstverständlichkeiten, die der politischen Auseinandersetzung entzogen wurden.

Auf die zahlreichen Themen, die „Der Deutsche Kanal“ beleuchtet, kann hier nicht im Detail eingegangen werden. Nur so viel: Das Buch bietet eine konzise Darstellung von Planungsdenken und Expertenhandeln, einen aufschlussreichen Einblick in die Befindlichkeiten Hamburgs und die beachtliche Kampagnenfähigkeit eines Stadtstaats im Räderwerk des Föderalismus. Aufgrund seiner Lage geriet der Kanal zudem in das Fahrwasser der Deutschlandpolitik mit ihren Sprech- und Denkverboten und der Neigung, alles ins Grundsätzliche zu wenden. Darüber hinaus diskutiert Uekötter die kreativen Lösungen, die bei der Realisierung eines Bund-Länder-Projekts geradezu zwingend notwendig wurden. Er arbeitet die Ambivalenzen einer Konstellation heraus, bei der die Absprachen zweier Konzerne im Staatsbesitz den Interessen der Öffentlichkeit zuwiderlaufen und die Ziele öffentlicher Verwaltungen unterminieren konnten. In einer derartigen Situation konnten Planer die erhoffte Rentabilität des Kanals mit den Transportbedürfnissen der Salzgitter AG begründen, während der Stahlkonzern den Kanal als Faustpfand für die Aushandlung günstigerer Tarife bei der Deutschen Bundesbahn betrachtete – deren Zustandekommen dann wiederum jede Prognose des Frachtaufkommens und damit der Rentabilität des Kanals obsolet machte. Schließlich widmet sich Uekötter auch dem eigentümlichen Ausbleiben zivilgesellschaftlicher Proteste. Selbst als der Kanal kurz nach der Eröffnung im Juli 1976 Leck schlug und die Heide überflutete (ohne dass jemand zu Tode kam), gab es weder eine Skandalisierung noch eine umfangreiche Aufarbeitung. Dies wiederum zeige, „dass die Katastrophe auch eine Art Stresstest für das Institutionengeflecht der bundesdeutschen Binnenschifffahrtsverwaltung war: Die Kultur der organisierten Verantwortungslosigkeit hielt selbst nach einem solchen Ereignis“ (S. 196).

Spannend an der Geschichte des Elbe-Seitenkanals ist insbesondere die Einsicht, dass derartige Projekte in einem eigenen zeitlichen Kontinuum existieren. Dass Infrastrukturen als großtechnische Systeme, wenn sie erst beschlossen und schließlich gebaut sind, weit in die Zukunft hineinragende Pfadabhängigkeiten begründen, ist keine Überraschung. Uekötter kann jedoch auch zeigen, dass man einmal begonnene Großprojekte offenkundig nicht mehr loswird – und dass sich dieses Problem angesichts der institutionellen Bedingungen und der politischen Kultur der Bundesrepublik verschärfte. Im Rahmen einer kleinen Genealogie deutscher Kanalpläne seit dem Kaiserreich verdeutlicht er, wie totgeglaubte Projekte stets irgendwann wiederbelebt und dann als Vorläufer neuer Projekte etikettiert wurden. Das ging mit der Neigung von Verkehrswissenschaftlern einher, ihre eigenen Pläne auf visionäre Ideen großer Männer in den Untiefen der Historie zurückzuführen. Nahezu jeder Kanalbau ließ sich dann als Verwirklichung eines lange gehegten Wunschs präsentieren.

„Der Deutsche Kanal“ wird von einer Skepsis gegenüber bestimmten Narrativen und Schwerpunkten innerhalb der Zeitgeschichte grundiert. Das historiographische Nachwort bündelt Uekötters diesbezügliche Vorbehalte noch einmal. Erstens ist da eine „Unzufriedenheit mit dem Narrativ des Erfolgsmodells Bundesrepublik“. Das Lehrstück vom Elbe-Seitenkanal dient einerseits dazu, die sachlichen Grenzen dieser Deutung zu benennen (die „geglückte Demokratie“ wirke angesichts des fraglichen Bauprojekts „eher wie eine Bananenrepublik, die sehenden Auges anderthalb Milliarden in einen sinnlosen Kanal versenkte“; S. 252). Andererseits soll die mythenkritische Perspektive allzu nostalgische Erinnerungen an die frühe Nachkriegszeit korrigieren.

Zweitens wendet sich Uekötter einigen Perspektivverengungen der Umwelt- und Umweltbewegungsgeschichte zu, namentlich der diagnostizierten Vernachlässigung politischer Institutionen. Wer sich nicht innerhalb dieses Forschungszweigs bewegt, dürfte zuweilen von der Verve irritiert sein, mit der er das betont (und oft auch etwas zu großzügig verallgemeinert). An Arbeiten zum Institutionengefüge der Bundesrepublik besteht sicher kein Mangel, zumal angesichts der über Jahrzehnte stabilen Allianz von Zeitgeschichte und Politikwissenschaft. Eine wirkliche Neuigkeit ist weder das Problem der Diffusion politischer Verantwortung in einem Mehrebenensystem noch die Identifizierung von Institutionen als volkswirtschaftliches Schlüsselproblem.

Drittens plädiert Uekötter für eine stärkere Berücksichtigung der „Männer, die als Leiter der Bauprojekte die Realisierung einschlägiger Infrastrukturen verantworteten“ (S. 36). Und hier wird es tatsächlich ärgerlich. Wie kann man mit Blick auf die umfangreiche Forschung zu Planung, Infrastruktur, Experten und Sozialingenieuren behaupten, dass die geschichtswissenschaftliche Literatur über solche Akteure „erstaunlich dünn“ sei? Uekötter fühlt sich in seiner Einschätzung allein dadurch bestätigt, dass über Fritz Todt, den von Hitler eingesetzten Generalinspektor für das deutsche Straßenwesen, „keine seriöse wissenschaftliche Biographie vorliegt“ und Biographien zu „einschlägige[n] Männern“ in Richtung „Charaktermord“ tendierten (ebd.). Dass hier nun gerade Robert A. Caros Biographie des New Yorker Stadtplaners Robert Moses aus dem Jahr 1975 (!)2 als repräsentativ gelten soll, ist nicht nachvollziehbar. Einerseits kann man fast alle jüngeren Arbeiten geradezu als Gegenprogramm zu den wahlweise dämonisierenden oder heroisierenden Monumentalbiographien der „Baumeister der Moderne“ begreifen; andererseits ist Robert Moses als Typus das exakte Gegenteil jener mittleren, oft unscheinbaren, aber dennoch umtriebigen Experten, Planer und Bürokraten in wissenschaftlichen Beiräten, Fachstäben von Ministerien, Hafenbaudirektionen, Binnenschifffahrtsverwaltungen usw., die Uekötter ins rechte Licht rücken will. Nur: Übersehen werden diese Akteure schon längst nicht mehr.3

Viertens schließlich kritisiert Uekötter eine angebliche Konzentration der Zeitgeschichte auf Themen, die zwar spannend daherkämen, aber am Normalbetrieb der Bundesrepublik vorbeigingen. „Wer ein Thema sucht, steht also vor einer Alternative zwischen dramaturgischem Mehrwert und realpolitischer Signifikanz, und die Agenda der zeithistorischen Forschung lässt deutlich erkennen, was in vielen Fällen schwerer wiegt. Man kann die Faszination, die 68er-Protest und RAF-Terror seit Jahrzehnten auf bundesdeutsche Historiker ausüben, kaum anders denn als Flucht vor einer ansonsten doch ziemlich betulichen Geschichte interpretieren. Aber was taugt eine Zeitgeschichte, der es vor der Lebenswirklichkeit der heutigen Menschen graut?“ (S. 251) Uekötters Argumente gewinnen weder durch den Tonfall noch die eigentümliche Mischung aus wissenschaftlicher und politischer Stoßrichtung. „Wer Angst hat vor Nazis und anderen autoritären Gefährdungen, findet in der zeithistorischen Literatur jede Menge Futter. Wer Angst vor freischwebenden Eliten hat, die aus Nachlässigkeit oder Inkompetenz die Zukunft verzocken, schaut hingegen in die Röhre“ (S. 266). Verquickt wird das dann auch noch mit einer Polemik gegen die „kulturalistischen und linguistischen ‚Turns‘“, die hier mit dem Umwelthistoriker John McNeill „als Rückzug aus tristen Realitäten ‚into various never-never lands‘“ verunglimpft werden (ebd.). Demgegenüber fordert Uekötter „eine Geschichtswissenschaft, die den Mut hat, Themen auch nach ihrer Relevanz für die Herausforderungen der Gegenwart zu gewichten“ (S. 266f.). Hier mag jede und jeder für sich entscheiden, an welche politischen Positionen und öffentlichen Debatten das anschlussfähig ist.

Festzuhalten bleibt, dass Frank Uekötters „Der Deutsche Kanal“ in ihren um konkrete Analyse bemühten Passagen eine durchaus gelungene gesellschaftsgeschichtliche Miniatur ist, die sich jedoch mit überschießenden Polemiken und Provokationen selbst im Weg steht.

Anmerkungen:
1 Vgl. dazu aber Benjamin Brendel, Konvergente Konstruktionen. Eine Globalgeschichte des Staudammbaus, Frankfurt am Main 2019.
2 Robert A. Caro, The Power Broker. Robert Moses and the Fall of New York, New York 1975.
3 So ist beispielsweise exakt jenes Milieu von Verkehrsexperten wie Paul Berkenkopf oder Andreas Predöhl, um das „Der Deutsche Kanal“ kreist, Gegenstand von Anette Schlimms grundlegender Studie zur Geschichte von verkehrswissenschaftlichem Ordnungsdenken und Social Engineering (vgl. Anette Schlimm, Ordnungen des Verkehrs. Arbeit an der Moderne – deutsche und britische Verkehrsexpertise im 20. Jahrhundert, Bielefeld 2011). Es irritiert, dass Uekötter diese Arbeit nicht zur Kenntnis nimmt. Generell zeigt sich in seiner Studie ein Mangel an gründlicher Literaturarbeit, wodurch der Forschungsstand zu zahlreichen Themen auffällig verkannt wird.